Europa in der Krise: Briten machen den Brexit wahr

Londons Ex-Bürgermeister Johnson, einer der Wortführer des Brexit-Lagers, nach der Abgabe seiner Stimme. Foto: EPA
Londons Ex-Bürgermeister Johnson, einer der Wortführer des Brexit-Lagers, nach der Abgabe seiner Stimme. Foto: EPA

Schock für Europa: Die Briten haben für den Austritt aus der EU gestimmt und stürzen den Staatenbund damit in die schwerste Krise seiner fast 60-jährigen Geschichte. In einem historischen Volksentscheid votierten 51,9 Prozent für den Brexit. Premierminister David Cameron, der für einen Verbleib geworben hatte, kündigte seinen Rücktritt bis spätestens Oktober an. Er versicherte zugleich, dass Regierung und Parlament den Mehrheitswillen respektieren und mit der EU den Austritt aushandeln werden.

 

 

Die internationalen Finanzmärkte reagierten mit Kursstürzen. Das Pfund Sterling erreichte den tiefsten Stand seit 1985. Experten befürchten eine Wirtschaftskrise, Jobverluste und einen Währungsverfall.

 

Rechtsparteien in Europa jubilierten. Erste Forderungen nach Referenden in anderen EU-Staaten wurden laut. Der britische Rechtspopulist Nigel Farage, einer der populärsten Brexit-Befürworter, frohlockte: «Die EU versagt, die EU stirbt.»

 

Auch dem Vereinigten Königreich selbst könnte ein Zerfall drohen. In Schottland und Nordirland bekommen Separatisten Aufwind, die für eine Abspaltung von Großbritannien sind und in der EU bleiben wollen. Bei dem Referendum hatten Schotten und Nordiren mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert.

 

Die Wahlbeteiligung lag bei 72 Prozent, insgesamt hatten sich 46,5 Millionen Wähler für die Abstimmung registriert.

 

Der Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, plädierte für zügige Austrittsverhandlungen mit der EU. Artikel 50 des Lissabon-Vertrags, der dies regelt, müsse «jetzt angewendet werden», sagte er der BBC.

Mit Großbritannien verliert die EU die Finanzhauptstadt der Welt, seine zweitgrößte Volkswirtschaft und das Land mit der drittgrößten Bevölkerung. Zudem ist das Land - zusammen mit Frankreich - einer von zwei EU-Staaten mit Atomwaffen und Ständigem UN-Sicherheitsratssitz.

 

EU-Gipfelchef Donald Tusk rief die verbleibenden Mitgliedstaaten auf, zusammenzuhalten. «Wir sind entschlossen, unsere Einheit zu 27 zu bewahren.» Es sei nicht der Augenblick für hysterische Reaktionen. Am Rande des EU-Gipfels am Dienstag und Mittwoch in Brüssel solle es bereits ein «informelles Treffen» der 27 geben - erstmals ohne Großbritannien. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz sagt tiefgreifende Umwälzungen vorher: «Kein Stein wird auf dem anderen bleiben.» Am Samstag kommen in Berlin die Außenminister der sechs EWG-Gründerstaaten zusammen - das sind Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder.

 

Cameron hatte das Referendum bereits 2013 vorgeschlagen - vor allem mit dem innenpolitischen Kalkül, EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen. Diese Rechnung ging nicht auf. Zahlreiche Warnungen von Politikern aus der ganzen Welt, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von Wirtschaftsverbänden verhallten ungehört.

 

Brexit-Wortführer Boris Johnson, ein parteiinterner Rivale Camerons, argumentiert stattdessen, ein Austritt würde Londons Abhängigkeit von Brüssel beenden und dem Land seine Souveränität zurückgeben. Er sprach von einem «Unabhängigkeitstag» für Großbritannien.

 

Die Bundesregierung äußerte sich enttäuscht. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) twitterte: «Damn (Verdammt)! Ein schlechter Tag für Europa.» Justizminister Heiko Maas erklärte, jetzt sei «Mut statt Depression» gefragt. Die junge Generation in Großbritannien dürfe nicht alleingelassen werden, twitterte der SPD-Politiker. Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) erklärte: «Wir brauchen ein besseres Europa, das sich mehr den Menschen zuwendet.»

 

Nach dem Brexit-Votum wird der Bundestag voraussichtlich am Dienstag zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

 

Bundespräsident Joachim Gauck sagte: «Viele gute Europäer haben heute traurige Gefühle.» Jetzt gehe es darum, an der europäischen Idee festzuhalten. (DPA)