SPD hält noch höhere Flüchtlingszahlen für wahrscheinlich

Ministerpräsidentin Kraft in einer Betreuungsstelle für Flüchtlinge in Dortmund. Die Prognose von 800 000 Flüchtlingen hält sie für überholt. Foto: Marius Becker
Ministerpräsidentin Kraft in einer Betreuungsstelle für Flüchtlinge in Dortmund. Die Prognose von 800 000 Flüchtlingen hält sie für überholt. Foto: Marius Becker

Wie viele Flüchtlinge und Migranten werden dieses Jahr noch nach Deutschland kommen? Das Bundesinnenministerium geht von 800 000 Menschen aus. Doch möglicherweise wird auch diese Prognose schon bald von der Realität überholt werden. Nordrhein-Westfalens Minister-präsidentin Hannelore Kraft rechnet bis zum Jahresende mit deutlich höheren Flücht-lingszahlen als die Bundesregierung.

Die Prognose von 800 000 Flüchtlingen für Deutschland in diesem Jahr sei überholt, sagte Kraft in Berlin. 

«Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass es nicht bei 800 000 bleiben wird», fügte die SPD-Politikerin hinzu. Angesichts der anhaltend hohen Zahl von Neuankömmlingen hält Kraft das Maßnahmenpaket der Koalition für die Flüchtlingshilfe für unzureichend. Vizekanzler Sigmar Gabriel hatte zuvor erklärt, Deutschland sei durchaus in der Lage, auch in den nächsten Jahren in großem Stil Flüchtlinge aufzunehmen. «Ich glaube, dass wir mit einer Größenordnung von einer halben Million für einige Jahre sicherlich klarkämen», sagte der SPD-Chef am Montagabend im ZDF. «Ich habe da keine Zweifel - vielleicht auch mehr.»

Seit dem vergangenen Freitag sind mehr als 30 000 Menschen, die zuvor in Ungarn festsaßen, in Bayern angekommen. Nach Ansicht des UN-Sondergesandten Staffan de Mistura könnte vor allem die Zahl der aus Syrien flüchtenden Menschen noch einmal drastisch steigen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat seit Jahresbeginn 366 402 Migranten und Flüchtlinge gezählt, die über das Mittelmeer nach Europa kamen.

NRW-Ministerpräsidentin Kraft sagte, die vom Bund angekündigte Drei-Milliarden-Hilfe für Länder und Kommunen ab 2016 reiche nicht aus, betonte Kraft. Sie sagte: «Allein mein Land gibt 1,7 Milliarden für Flüchtlinge aus.» Und: «2015 muss es auch noch einen Zuschlag geben.» Nicht allen in Berlin sei wohl bewusst, wie groß die Not von Ländern und Kommunen bei der Unterbringung der Flüchtlinge sei. Allein ihr Land NRW müsse innerhalb dieser Woche die Erstaufnahme-Plätze von 37 000 auf 54 000 Plätze aufstocken. Bei einer Verweildauer von Flüchtlingen bis zu sechs Monaten, wie von der Koalition gewollt, bräuchte allein NRW 

140 000 Plätze: «Ich weiß nicht, wie wir das hinkriegen wollen.»

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte, die Bewältigung der Flüchtlingskrise habe für die Bundesregierung «absolute Priorität». Bei der Einbringung seiner Haushaltspläne in den Bundestag deutete Schäuble am Dienstag an, dass angesichts der Herausforderungen auch die bisher auch für 2016 angestrebte «Schwarze Null» - also der Verzicht auf neue Schulden - nicht unumstößlich sei. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte im Bundestag: «Diese große humanitäre, politische und kulturelle Herausforderung wird Deutschland verändern.» Er zeigte sich überzeugt, dass dies letztlich zum Vorteil des Landes geschehe.

Unterdessen beendete die ungarische Polizei in der Nacht zum Dienstag einen Fußmarsch Hunderter Flüchtlinge von der serbischen Grenze Richtung Budapest. Die übermüdeten Menschen seien auf der Autobahn von Polizeibussen abgeholt und in das Erstregistrierungslager Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze zurückgebracht worden, berichtete die Nachrichtenagentur MTI. Die Flüchtlinge hatten ihre Registrierung in Röszke verweigert - aus Angst, dadurch ihre Aufnahme in einem anderen EU-Staat zu gefährden.

Auch am Dienstag überquerten wieder mehrere hundert Flüchtlinge die Grenze von Serbien nach Ungarn. Das berichtete ein dpa-Reporter vor Ort. Sie liefen über ein Bahngleis von der Grenze bis nach Röszke.

Die meisten neu angekommenen Menschen wurden in eines der drei Lager bei Röszke gebracht. Direkt an der Bahnstrecke verteilten Freiwillige aus Deutschland Lebensmittel, Babynahrung und Windeln. Sonst gab es dort keine Hilfe für die Menschen. Familien mit kleinen Kindern waren unter elenden Bedingungen untergebracht, das Lager quoll vor Müll über.

Österreich geht derweil wieder gezielt gegen Schlepper vor. Seit Montag seien sechs Verdächtige festgenommen worden, teilte die Polizei mit. Nach dem Fund eines Schlepperlastwagens Ende August mit 71 Leichen im Laderaum hatten die Behörden in der Alpenrepublik angekündigt, verdächtige Fahrzeuge im Grenzgebiet schärfer zu kontrollieren.

dpa