Nobelpreis für Alexijewitsch stärkt die Kulturszene

Swetlana Alexijewitsch ist erst die 14. Frau seit 1901, die den Literaturnobelpreis erhält. Foto: Arne Dedert
Swetlana Alexijewitsch ist erst die 14. Frau seit 1901, die den Literaturnobelpreis erhält. Foto: Arne Dedert

Die Kulturszene im kleinen Weißrussland ist lebendig, doch eine starre Führung isoliert das Land. Nun betritt die Nobelpreisträgerin Alexijewitsch die Bühne, eine Frau des offenen Wortes. Das ist eine Herausforderung für die Mächtigen in Minsk und Moskau. Im russischen Sprachraum ist ein Schriftsteller schon immer mehr als ein Schriftsteller gewesen. Deshalb verschiebt der Literaturnobelpreis für Swetlana Alexijewitsch kulturelle und politische Gewichte - zumal in einem so kleinen Land wie Weißrussland.

Doch auch auf den riesigen Nachbarn Russland, regiert von Kreml-Chef Wladimir Putin, strahlt die Auszeichnung für die russischsprachige 67-jährige Autorin aus Minsk aus.

Die junge weißrussische Kulturszene hofft auf Veränderungen. «Wir erwarten, dass das Interesse an Weißrussland und an der weißrussischen Kultur wächst», sagte die Avantgarde-Künstlerin Tania Arcimovic der dpa. Das Potenzial sei groß, meint die Redakteurin des Minsker Kulturportals pARTIzan. «Doch Kultur und Gesellschaft in Weißrussland sind seit vielen Jahren isoliert, befinden sich im Hinterhof der globalen Debatten.» Die Isolation haben die Weißrussen ihrem Langzeit-Präsidenten Alexander Lukaschenko zu verdanken, auch als «letzter Diktator Europas» bezeichnet, einem treuen Vasallen Russlands. Seit 1994 regiert der «Batka» (Väterchen), am Sonntag (11.10.) will er sich für eine fünfte Amtszeit wählen lassen. Stunden nach Bekanntgabe des Nobelpreises rang er sich einen verqueren Glückwunsch an Alexijewitsch ab: «Ihr Schaffen hat nicht nur Weißrussen, sondern auch Leser in vielen Ländern der Erde nicht gleichgültig gelassen.»

Erstmals denke die Welt bei Weißrussland nicht nur an Lukaschenko oder Tschernobyl, freute sich Arcimovic. Alexijewitsch betritt die Szene mit aller moralischer Autorität, die der Nobelpreis verleiht. Da verliert ein Präsident an Bedeutung. Dass Alexijewitsch in ihrer Heimat weiter totgeschwiegen werden kann, wie sie am Donnerstag beklagte, ist unwahrscheinlich. «Wir glauben, dass die Heroen der heutigen belorussischen Kultur die Zukunft unseres Landes sind», sagt der Autor und Künstler Artur Klinau. Diese Heroen könnten mehr erreichen als jeder Politiker.

Alexijewitsch stellte am Donnerstag klar, wem sie sich zugehörig fühlt. «Ich kann nur sagen, dass ich mich als Mensch der weißrussischen Welt fühle.» Genauso zähle sie sich zur russischen Kultur, deren humanistischer Tradition. Sie erklärte sich solidarisch mit der Ukraine, kritisierte das russische Vorgehen. Denn den «Russki Mir», die «russische Welt» als Kampfbegriff des Kremls, als Herrschaftsanspruch über alles Russische, lehnte sie ab: «Die Welt von Berija, Stalin, Putin oder Schoigu mag ich nicht. Das ist nicht meine Welt.»

In Moskau wurde die Auszeichnung genauso verstanden - als Punktsieg der russischen Kultur über russische Militärstiefel. «Der Preis geht an das echte Russland, das die Welt liebt, vor dem sie sich verneigt», sagte der Autor Dmitri Bykow.

Der sowjetische Staat hat nie gezögert, Literaturnobelpreisträger schlecht zu behandeln. Boris Pasternak (1958) und Alexander Solschenizyn (1970) konnten nicht zur Verleihung fahren, Joseph Brodsky (1987) bekam den Preis im Exil. Beim Preis für Alexijewitsch gratulierte aus der russischen Führung Kulturminister Wladimir Medinski. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte in herablassendem Duzton nur, Swetlana habe leider keine Ahnung von der Ukraine.

Trotzdem dürfte es schwierig werden, eine Nobelpreisträgerin zu ignorieren, die weiter in Weißrussland lebt und in Russland auftritt. Alexijewitsch hat aus ihrer Abneigung gegen russischen Nationalismus und Militarismus noch nie einen Hehl gemacht. Der Nobelpreis verleiht ihrem Wort noch mehr Gewicht.

dpa