Dicke Kinder kämpfen gegen die Pfunde

Sport hilft bekanntlich beim Abspecken. Foto: Peter Steffen
Sport hilft bekanntlich beim Abspecken. Foto: Peter Steffen

Immer mehr Jugendliche in Deutschland sind extrem übergewichtig. Experten warnen vor einer Adipositas-Epidemie. Ein Programm am Kinderkrankenhaus in Hannover hilft 8- bis 17-Jährigen beim Abspecken. Ein Ziel ist auch, Folgekrankheiten zu vermeiden. David war schon in der Grundschule pummelig. «Rollmops» haben seine Mitschüler ihm manchmal auf dem Schulhof hinterhergerufen. Mit zwölf Jahren entschloss sich der blonde Junge aus Hannover dazu, grundlegend etwas zu ändern.

«Man hat es leichter im Leben, wenn man weniger Kilos mit sich herumschleppt», sagt er. Seit dem Frühjahr speckt David mit Hilfe eines Programms für stark übergewichtige 8- bis 17-Jährige ab. In den Kursen am Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult in Hannover sollen nicht nur die Pfunde purzeln. Ziel ist es, die ganze Familie zu einem gesünderen Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu motivieren. Die Menschen in Deutschland werden immer schwerer. Über die Hälfte der Erwachsenen sind übergewichtig, Tendenz steigend. Nach den jüngsten zur Verfügung stehenden Daten des Robert-Koch-Instituts waren 2007 etwa 15 Prozent der 3- bis 17-Jährigen zu dick. Rund 6 Prozent litten unter Adipositas, also extremem Übergewicht; bei den 14- bis 17-Jährigen waren es sogar 8 Prozent. Hänseleien und seelische Belastungen sind für diese Jugendlichen nicht das einzige Problem. Diabetes, Haltungsschäden, nächtliche Atemaussetzer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder sogar Krebs können folgen.

Seit zehn Jahren bietet das Kinderkrankenhaus in Hannover die sogenannten «Kick»-Kurse für adipöse Jungen und Mädchen an. «Kick» steht für «Kindergewicht intensiv Coaching im Krankenhaus». Das über ein Jahr laufende Programm ist von der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kinder- und Jugendalter zertifiziert. «Leider bieten bisher viel zu wenige Klinken zertifizierte Programme an», sagt Chefarzt Thomas Danne. So seien viel zu wenige betroffene Kinder in Behandlung.

Die aktive Mitgliedschaft in einem Sportverein ist Voraussetzung für die Aufnahme in das Programm. Am Anfang gibt es wöchentlich ein bis zwei Schulungsnachmittage. Einmal in der Woche steht ein Sporttraining mit den anderen Kursteilnehmern an. Der zwölfjährige David ist an diesem Abend eines der schlanksten Kinder in der Turnhalle. Innerhalb von sechs Monaten hat er fünf Kilo abgenommen und ist drei Zentimeter gewachsen. Damit gilt er nicht mehr als adipös, sondern nur noch als leicht übergewichtig. «Bei uns zu Hause gibt es statt Apfelschorle jetzt Wasser und keinen Süßigkeiten-Teller mehr», erzählt David nach dem Training.

Während ihre Kinder Sport treiben, werden die Eltern von einer Diätassistentin über den Zucker- und Fettgehalt von Lebensmitteln aufgeklärt. Dabei gibt es praktische Ratschläge, etwa Apfelschorle durch Wasser oder Mortadella durch fettarmen Kochschinken zu ersetzen. Beeindruckend ist auch, wie der Zuckergehalt von Getränken durch Würfelzucker veranschaulicht wird. 28 Zuckerstücke stecken zum Beispiel in einem Liter Eistee. «Milch ist kein Getränk, sondern eine Mahlzeit», erklärt die Diätassistentin und die Mütter und Väter staunen.

Der Ärztliche Leiter des «Kick»-Programms, Thomas Danne, sieht beim Thema Adipositas aber nicht nur die einzelne Familie in der Verantwortung. «Wir müssen gesundes Leben leichter machen», betont der Diabetes-Experte. Dazu gehöre eine verständliche Lebensmittel-Kennzeichnung, etwa mit Hilfe einer Ampel. Dabei werden die Produkte unter anderem nach ihrem Zucker-, Fett- und Salzgehalt als rot, gelb oder grün eingestuft.

Die 15-jährige Annika aus Hohenhameln hat ihren «Kick»-Kurs bereits beendet und deutlich abgenommen. «Joggen im Schulsport habe ich früher gehasst, jetzt geht es viel besser», erzählt die Zehntklässlerin. Dass sie niemals Modelmaße haben wird, ist ihr bewusst. «Ich messe mich nicht mit anderen», sagt sie selbstbewusst.

Beim Übergewicht spielt die genetische Veranlagung eine große Rolle, wie Familien- und Zwillingsstudien belegen. Forscher schätzen den Einfluss der Gene auf 50 bis 90 Prozent. Aus diesem Grund leiden bei vielen Jugendlichen, die massenweise süße Getränke in sich hineinkippen, allenfalls die Zähne, während andere massiv an Gewicht zulegen.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Dietrich Monstadt plädiert dafür, strengere Regelungen einzuführen, welche Produkte als Kinder-Lebensmittel vermarktet werden dürfen. «Trinkjoghurt ist das gefährlichste Getränk, schlimmer als Cola», sagt der Berichterstatter für Typ II-Diabetes und Adipositas seiner Fraktion. Außerdem sei es komplett unnötig, dass Kinos Cola in 1,5-Liter-Bechern verkaufen.

Viele Experten sprechen bereits von einer Adipositas-Epidemie. Um diese einzudämmen, fordert unter anderem die Deutsche Adipositas-Gesellschaft mehr Sportunterricht in der Schule. Annika treibt auch nach Abschluss ihres «Kick»-Kurses in Hannover weiter Sport. In den Herbstferien hat sie Stand-up-Paddeln ausprobiert. «Ich hatte Angst, dass sie beim Abnehmen eine Essstörung entwickeln könnte», erzählt die Mutter der 15-Jährigen. Ihre Tochter sei aber toll psychologisch unterstützt worden. «Sie hat nicht nur abgenommen, vor allem strahlt sie jetzt mehr.»

dpa