Bierhoff: "Die Mannschaft muss wieder zusammenwachsen"

Oliver Bierhoff übt den Job des Teammanagers mit Herzblut aus. Foto: Andreas Gebert
Oliver Bierhoff übt den Job des Teammanagers mit Herzblut aus. Foto: Andreas Gebert

Deutschland, Spanien, Frankreich - so lauten die Topfavoriten von Oliver Bierhoff auf den EM-Titel 2016. Der Teammanager spricht zum Jahresende über sportliche Ziele, Teamgeist, das besondere Verhältnis zu Joachim Löw, Ex-Kapitän Lahm und ein Jahrhundertprojekt. Oliver Bierhoff schwört die deutschen Fußball-Weltmeister zum Jahresende auf die nächste Titelmission bei der Europameisterschaft 2016 in Frankreich ein.

«Im Schongang geht das nicht, das haben wir in der EM-Qualifikation gesehen», sagt der 47 Jahre alte Teammanager im Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Mit welchen Wünschen und Zielen, womöglich aber auch Sorgen und Bedenken blicken Sie dem EM-Jahr 2016 entgegen? Oliver Bierhoff: Die Wünsche sind klar. Wir wollen als Weltmeister der Favoritenrolle bei der Europameisterschaft gerecht werden. Natürlich träumen wir vom Titel, wissen aber, dass diesen Traum auch andere Nationen haben. Wir wünschen uns, dass wir unsere Qualität und den guten Ruf, den wir uns mit der Mannschaft in den letzten Jahren erarbeitet haben, festigen und ausbauen. Wir wollen mit attraktivem Fußball, aber auch der Art und Weise, wie wir uns außerhalb des Platzes präsentieren, unsere Fans zu Hause und überall auf der Welt begeistern. Dazu wollen wir es schaffen, die Mannschaft weiter zu entwickeln, jeden einzelnen Spieler besser zu machen und auch weiterhin neue, junge Spieler an die Nationalmannschaft heranführen. Gerade darin besteht neben dem Ziel, sportlich immer die höchsten Ziele anzustreben, also Titel zu gewinnen, eine große Motivation für uns alle, also auch die Trainer Jogi Löw, Thomas Schneider und Andy Köpke.

Und gibt's Bedenken?

Bierhoff: Niemand sollte glauben - und da nehme ich keinen aus, ob Spieler, Trainer, Manager, Betreuer oder Fans -, dass man auch nur ein paar Prozent von der maximalen Leistungsfähigkeit nachlassen kann und trotzdem Europameister wird. Der Titelgewinn in Frankreich wird ein ganz hartes Stück Arbeit. Neben unseren technischen und taktischen Qualitäten, die wir abrufen müssen, wird die Einstellung eine ganz entscheidende Komponente sein. Die war auch 2014 in Brasilien entscheidend. Bei der Weltmeisterschaft war zu spüren, dass sich niemand diese einmalige Chance entgehen lassen wollte. Jeder bei uns hat sich voll in das WM-Projekt eingebracht. Im Schongang geht das nicht, das haben wir in der EM-Qualifikation gesehen.

Muss ein neues Siegerteam reifen?

Bierhoff: Die Mannschaft muss wieder neu zusammenwachsen. Wir haben nach der WM drei Säulen verloren, Lahm, Mertesacker und Klose. Wir haben andere Spieler, die Verantwortung übernehmen: Neuer, Boateng, Khedira, Hummels, Müller, Schweinsteiger. Dazu kommen Spieler wie Ilkay Gündogan und Toni Kroos, die international mit der Nationalmannschaft und in ihren Vereinen schon viel erreicht haben. In den letzten anderthalb Jahren konnte sich - auch aufgrund von Verletzungen - dieses Gerüst jedoch noch nicht festigen. Daher wird die Vorbereitungszeit vor der EM sehr wichtig sein.

Als Manager müssen Sie die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Turnier schaffen. Wie ist der Planungsstand? Wird Deutschland europameisterlich präpariert sein, wenn es am 12. Juni 2016 in Lille gegen die Ukraine erstmals ernst wird?

Bierhoff: Wir haben wie immer unsere Hausaufgaben gemacht. Wir werden optimale Trainingsbedingungen und ein gutes Quartier in Évian-les-Bains haben. Man sollte keine Vergleiche mehr mit dem Campo Bahia in Brasilien ziehen, dazu ist kaum mehr eine Steigerung möglich. Wir haben in Évian ein Hotel mit kurzen Wegen zum Training und vor allem auch wieder mit der Möglichkeit, ständig miteinander zu kommunizieren, uns zu begegnen. Wir können dort in Ruhe konzentriert arbeiten, aber auch zwischen den Spielen gut entspannen und abschalten, der so wichtige Mannschaftsgeist kann dort entstehen.

Erstmals nehmen 24 Nationen an einer EM-Endrunde teil. Diese dürfte auch im kommenden Sommer noch sehr unter dem Eindruck der Terroranschläge von Paris stehen. Was für ein Turnier erwarten Sie?

Bierhoff: Aus sportlicher Sicht wird das Turnier nach der Erhöhung der Teilnehmerzahl wie bei der Weltmeisterschaft erst mit vielleicht einer Ausnahme ab dem Viertelfinale an Fahrt aufnehmen, erst dann wird es richtig brisant. Und zum Thema Sicherheit: Schon bei der WM in Brasilien hatten wir rund um die Mannschaft sehr hohe Sicherheitsvorkehrungen. Daran sind wir bei den großen Turnieren gewohnt. Aber die Fans werden sich wohl insgesamt auf erhöhte Sicherheitsvorkehrungen einstellen müssen.

EM 2016, Confederations Cup 2017 und WM 2018 jeweils in Russland - die nächsten drei Jahre werden den Nationalspielern extrem viel abverlangen. Wie betrachten Sie diese Herausforderung?

Bierhoff: Das ist schon ein Mammutprogramm für die Nationalspieler, ein Thema, dem man sich stellen muss. Die Spanier haben es von 2008 bis 2012 über einen längeren Zeitraum geschafft, ihre Qualität hoch zu halten und zu bestätigen. Wir müssen mit Verletzungen und mentaler Müdigkeit rechnen. Aber ich bin kein Freund des Lamentierens. Wir kämpfen dafür, Titel zu gewinnen, wir wollen uns immer mit den Besten messen und große Ziele erreichen, daher ist es gut, auch bei einem Confed-Cup ein Jahr vor der WM dabei zu sein. Solche Turniere eröffnen immer wieder die Chance, junge Spieler frühzeitig in internationalen Spielen reifen und wachsen zu lassen.

DFB und Bundesligaclubs werden dabei kooperieren müssen?

Bierhoff: Es wird enorm wichtig sein, gemeinsam mit den Vereinen in kollegialer enger Abstimmung die Belastung der Spieler richtig zu dosieren und zu steuern. Ich bin zuversichtlich, dass wir in diesem Punkt weiterhin sehr gut mit der Liga und den Clubs zusammenarbeiten werden. Jogi Löw hat oft genug bewiesen, dass er da einen Weitblick hat und die Vereinsinteressen berücksichtigt. Er ist da sensibel, sieht in erster Linie den Spieler in seiner Gesamtheit. Genauso sehen die Vereine den hohen Wert der Nationalmannschaft für den deutschen Fußball.

Wer ist Topfavorit auf den EM-Titel? Der Weltmeister? Der Titelverteidiger, also Spanien? Oder der Gastgeber, Frankreich?

Bierhoff: Diese drei Teams gehören sicher zu den Topfavoriten. Wenn man von den zur Zeit besten europäischen Vereinsmannschaften spricht, habe ich das Gefühl, wird vom FC Barcelona und Bayern München gesprochen. Das spiegelt sich dann auch in den Nationalmannschaften wider. Von der Qualität her sind die Spanier sehr stark. Die Franzosen waren für mich auch schon bei der WM sehr stark, man spürte, da wächst etwas heran. Jetzt sind die Spieler zwei Jahre weiter. Der Heimvorteil kann erdrückend sein, meistens aber ist er förderlich und setzt weitere Kräfte frei. Wir rechnen ganz stark mit Frankreich.

Bei der Auslosung der EM-Gruppen hätte Deutschland fast Italien erwischt. An der Reaktion von Joachim Löw danach wurde deutlich, dass gerade in ihm bei Italien noch etwas rumort. Die Italiener wolle er schon noch irgendwann mal bei einem Turnier besiegen, erklärte der Bundestrainer. Was sagen Sie dazu?

Bierhoff: Da kann ich ihm nicht widersprechen. Aber wir sollten uns nicht einreden, dass die Italiener ein Angstgegner sind. Klar, für die Psyche wäre es schon wichtig, dass wir Italien irgendwann in einem wichtigen Turnierspiel schlagen. Wir haben alle das verlorene EM-Halbfinale 2012 noch im Hinterkopf und ärgern uns immer noch, dass wir die Chance damals hergegeben haben.

Weltmeister, mehr geht nicht im Fußball: Woraus ziehen Sie, zieht Joachim Löw, ziehen die Spieler die Motivation für neue Ziele?

Bierhoff: Aus dem Anspruch und Antrieb des Spitzensportlers, der Beste sein zu wollen. Das macht Champions aus. Da geht es nicht um Geld, da geht es nicht allein um Titel. Da geht es um die Ehre, um den eigenen Stolz, das Beste aus sich herauszuholen, die eigene hohe Qualität umzusetzen. Darum ist für mich nicht nur das nackte Ergebnis entscheidend, sondern die Art und Weise, wie wir auftreten, wie wir spielen, wie wir Turniere angehen.

Entscheidend für Löw ist vor Turnieren die unmittelbare Vorbereitung. Müssen Sie hoffen, dass der FC Bayern besser nicht ins Champions-League-Finale kommt, damit wichtige Spieler wie Neuer, Boateng, Müller oder Götze im Trainingslager komplett dabei sein können?

Bierhoff: Die Frage wiederholt sich vor allen Turnieren. Und die Antwort ist stets die gleiche: Es gibt verschiedene Sichtweisen. Für die Mannschaft ist es gut, wenn sie von Anfang an komplett zusammen ist. Wenn man aber Topspieler hat, die mit ihren Vereinen international auf höchstem Level spielen, muss man immer damit rechnen, dass einer oder auch mehrere im Champions-League-Finale stehen. Das kann neben Bayern auch Arsenal oder Real Madrid betreffen. Das sind immer ganz wichtige und wertvolle Erfahrungen für die Spieler, von denen nicht nur der einzelne, sondern das gesamte Team profitieren kann. Positiv ist: Die Spieler können dann auch mit großem Selbstvertrauen zu uns kommen.

Oder gefrustet nach Niederlagen?

Bierhoff: Schwierig ist eine Situation wie vor der letzten Europameisterschaft bei den Bayern-Spielern, die alles verloren hatten. Da mussten wir zunächst Aufbauarbeit leisten. Aber wir hoffen natürlich, dass deutsche Mannschaften die Endspiele erreichen. Das gilt für die Champions League genauso wir für die Europa League.

Im Weltmeister-Team gibt es die Baustelle Außenverteidiger. Werden Sie irgendwann mit dem Bundestrainer doch noch Philipp Lahm aufsuchen, um ihn zu überzeugen, bei der EM ein Comeback zu feiern?

Bierhoff: Ich habe mit ihm vor einiger Zeit gesprochen, aber nicht konkret über dieses Thema. Wer Philipp kennt, wer seine Aussagen liest, wer auch persönlich mit ihm spricht, der weiß, dass das ausgeschlossen ist. Das sollten wir auch respektieren.

Sie führen im zwölften Jahr gemeinsam mit Joachim Löw die Nationalmannschaft. Gibt es da keine Abnutzungserscheinungen? Was prägt Ihre Zusammenarbeit? Gab es in der langen Zeit auch Krisen?

Bierhoff: Das Schöne ist, dass sich diese Freundschaft immer weiter entwickelt hat. Wir kannten uns ja vorher nicht. Die Zusammenarbeit ist von großem Vertrauen, Offenheit, Respekt und Ehrlichkeit geprägt. Dazu gehören auch Momente, in denen wir kritisch miteinander umgehen, uns hinterfragen, auch mal unterschiedlicher Meinung sind. Aber dank dieses großen Vertrauens gab es nie einen Gedanken daran, ernsthaft an unserer Zusammenarbeit zu zweifeln oder nicht loyal zueinander zu sein.

Können Sie einen kritischen Moment benennen?

Bierhoff: 2010 wurde Jogi und dem Trainerstab unabhängig von mir ein Vertragsangebot vorgelegt und versucht, uns zu trennen. Da haben Jogi, Hansi (Flick) und Andy (Köpke) sich klar zu mir bekannt, sich auf meine Seite gestellt und dieses verlockende Angebot abgelehnt. Das rechne ich ihnen immer noch hoch an. In so einem schwierigen Moment, in dem es vielleicht einfach gewesen wäre, nur an sich zu denken, haben sie das Team höher gestellt als sich selbst.

Der Vertrag von Löw läuft bis zur WM 2018, Ihrer sogar bis 2020. Dann wären Sie 16 Jahre Nationalmannschaftsmanager. Früher gab es auch mal die Vereinsoption. Heißt es inzwischen, für immer DFB?

Bierhoff: Die Frage, wie lange ich diesen Job machen möchte, habe ich mir alle zwei Jahre gestellt. Ich weiß es sehr zu schätzen, die Verantwortung für die Nationalmannschaft übernehmen zu dürfen, das ist für mich nicht nur eine faszinierende Aufgabe, darin steckt auch viel Herzblut. Bei der letzten Vertragsverlängerung kam nun noch die DFB-Akademie dazu, ebenfalls ein unglaublich emotionales Vorhaben, ein Leuchtturmprojekt für den DFB, von dem ich voll überzeugt bin und das mir ebenfalls sehr am Herzen liegt. Die Akademie ist aber nur Teil eines neuen DFB, den wir zentral in Frankfurt bauen. Die Leitung für dieses Jahrhundertprojekt zu übernehmen, ist noch mal ein großer Anreiz für mich. Trotzdem gehe ich davon aus, dass meine Aufgabe beim DFB endlich ist. Ich habe immer nur in gewissen Zeiträumen gedacht, auch schon als Spieler. Mein Zeithorizont reicht im Moment bis zur WM 2018 und der Fertigstellung der Akademie.

ZUR PERSON: Oliver Bierhoff ist am 1. Mai 1968 in Karlsruhe geboren. Seit 2004 ist er Manager der deutschen Nationalmannschaft, die Funktion gab es vorher im DFB nicht. Als Profi war Bierhoff Torjäger. Er schoss Deutschland 1996 mit seinem «Golden Goal» zum EM-Titel. Das gegen Brasilien verlorene WM-Finale 2002 in Japan war sein 70. und letztes Länderspiel, der ehemalige DFB-Kapitän erzielte 37 Tore.

dpa