Roman über eine Außenseiterin Amelie Fried: Von Hippies und Nazis

Amelie Fried erzählt die Geschichte eines unbehausten Mädchens. Foto: Ulrich Perrey
Amelie Fried erzählt die Geschichte eines unbehausten Mädchens. Foto: Ulrich Perrey

Überfliegerin und Außenseiterin

India könnte ein ganz normales 13 Jahre altes Mädchen sein - wäre sie nicht hochbegabt und ihre Eltern keine Hippies. Autorin Amelie Fried erzählt in ihrem neuen Roman aus dem Leben einer Überfliegerin und Außenseiterin.

India hat ganz schön viel Pech gehabt. Das findet sie selbst zumindest. 1975 lebt die hochbegabte Schülerin mit ihren Hippie-Eltern und dem etwas sonderlichen Bruder Che in einer baden-württembergischen Kleinstadt.

Umgeben von gutbürgerlicher Spießigkeit wünscht sie sich nichts mehr als möglichst durchschnittlich zu sein.

Aber an India ist rein gar nichts durchschnittlich: 

nicht ihre Eltern, nicht ihr Familienleben und auch nicht ihre Begabungen.

Die Autorin Amelie Fried (58) nähert sich in ihrem neuem Roman «Ich fühle was, was du nicht fühlst» dem verworrenen Gefühlsleben der 13 Jahre alten India, die in der Ich-Perspektive mit Scharfsinn, Nüchternheit und schlagfertiger Ironie die Welt der Erwachsenen betrachtet. Sie selbst, die an der Grenze zum Erwachsenwerden steht, fühlt sich nirgendwo zugehörig: «Ich glaube, ich kenne den Ort noch gar nicht, der eine Heimat für mich sein könnte.» Am wohlsten fühlt sie sich, wenn sie komplexe Gleichungen löst - Zahlen bieten dem Mädchen Schutz und Sicherheit.

In der Schule ist sie durch ihre überdurchschnittlichen Leistungen und ihre unkonventionellen Eltern eine Außenseiterin. Mit Erwachsenen und ihrer in Indias Augen verlogenen und ichbezogenen Weise, sich durch die Welt zu bewegen, kann sie noch weniger anfangen. Ihre Eltern - die Mutter Yoga-Lehrerin mit Vorliebe für Joints und der Vater Performance-Künstler - sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das Gefühl der Verlorenheit, das ihre Tochter verfolgt, auch nur wahrzunehmen.

 

In Bruder Che findet India ihren einzigen und wichtigsten Verbündeten.

«Was ihn und mich bei aller Verschiedenheit einte, war die Ablehnung unserer Eltern. Der gemeinsame Gegner schweißte uns zusammen, und so fühlten wir uns beider weniger allein.» Der Bruder, der ihr Halt gibt, verliert sich bei seiner Suche nach Aufmerksamkeit und Zugehörigkeit im Rechtsradikalismus.

Normalität findet sie bei ihrer gleichaltrigen Nachbarin Bettina und ihrer Familie. Mutter Margot stopft sie mit Pfannkuchen und Plätzchen voll, während sie sich besorgt über die Zustände in Indias Familie äußert. Vater Christian, Musiklehrer an Indias Schule, komplementiert das Bild der vollkommenen Durchschnittsfamilie. Er entdeckt Indias Begabung für das Klavierspiel und konfrontiert sie mit der Kraft der Musik, der sich die Hochbegabte zunächst schutzlos ausgeliefert fühlt.

Nachdem India von ihrem ersten Freund Felix sitzen gelassen wird, beginnt nach und nach die Fassade ihrer eigenen und auch die der scheinbar perfekten Nachbarsfamilie zu bröckeln. Lügen und Geheimnisse, die India in ihrer Enttäuschung und Misstrauen gegenüber Erwachsenen bestärken, kommen an die Oberfläche.

 

Amelie Fried greift in ihrem Roman Teile ihrer eigenen Familiengeschichte auf

Die in Ulm geborene Schriftstellerin und TV-Moderatorin Amelie Fried greift in ihrem Roman auch Teile ihrer eigenen, vom Nationalsozialismus geprägten Familiengeschichte auf. Genau wie India erfuhr sie nur durch Zufall von einem jüdischen Großvater, der von den Nazis ermordet wurde. Frieds Großvater besaß ein Schuhgeschäft, Indias Opa ein Bekleidungsgeschäft.

In Frieds neustem Roman stehen aber vor allem die Charaktere und ihr Beziehungsgeflecht im Vordergrund. Dass die zwischenmenschlichen Beziehungen tragend sind, zeichnet in den Augen der Autorin ihre Herangehensweise an Geschichten aus: «Meine Bücher handeln meistens von Beziehungen zwischen Menschen, von der Liebe und ihren Schwierigkeiten.»

Lediglich Indias Charakter hätte im Laufe der Geschichte - zumal aus der Ich-Perspektive geschildert - noch mehr an Tiefe gewinnen können. So erwähnt die Schülerin zum Beispiel selbst eine Depression, die sie von Zeit zu Zeit heimsucht. An einer weiteren Stelle aufgegriffen, wird die mögliche Erkrankung jedoch nicht. Das tut der Unterhaltsamkeit und Sensibilität, mit der Fried die Welt der hochbegabten India schildert, jedoch keinen Abbruch. dpa